Das Murmeltier mit dem HalsbandTagebuch eines Philosophen
Teil II - Fetter MondZweiter Sommer
Neumond
Erster Tag
M.02.06.01.01 / M.132
Gewitter auf Gewitter! Der Blitz schlug mehrere Male in den Gipfel der Dent Noire. Warum war ich nicht dort oben?
Dritter Tag
M.02.06.01.03 / M.133
Die Hunde wüten. Der Mensch ebenfalls. Er vermischt seinen Donner mit dem des Himmels. Mehrere Murmeltiere wurden getötet. Unser Land entvölkert sich.
Vierter Tag
M.02.06.01.04 / M.134
Die Natur, die auf Erden die übelwollenden Rassen begünstigt und sich beliebig vermehren läßt, hat drei davon noch gefürchteter gemacht als alle andern: den Geier, den Hund und den Menschen.
Der Geier ist das schrecklichste aller Tiere wegen der Kraft seiner Flügel und seiner blitzartigen Geschwindigkeit. Die einzigen Tiere, die ihm entgehen, sind die, die er wegen ihres Gewichtes nicht forttragen kann, und auch die fürchten ihn noch wegen ihren Jungen. Er fliegt nicht, er stürzt sich auf sein Opfer und entführt es. Seine Macht ist ein Verhängnis. Er hat fahlrote, von lebendem Fleisch umrahmte Augen, einen hakenförmigen Schnabel, immer geschärfte Krallen, den Hals zum Beutesuchen ausgestreckt. Man schaudert beim Gedanken an sein Nest, das ein Beinhaus sein muß, beim Gedanken an die Henkersreise, die die Tiere machen müssen, bis er sie für seine Jungen in Stücke reißt. Es ist entsetzlich, sich diesen Tod vorzustellen, umso entsetzlicher, als er langsam ist. Das Opfer atmet und zuckt noch unter seinem scheußlichen Schnabel, der ihm Fleischfetzen aus dem Leibe reißt, und unter den spitzen Krallen, die seine Eingeweide zerwühlen.
Dennoch ist der Geier eher blutdürstig als grausam. Nicht er ist grausam, sondern die Natur, die ihn gefräßig zur Welt kommen ließ und ihm sagte: “Du wirst von dampfendem Fleisch leben!” Er hat Hunger, er macht Jagd auf die Tiere wie wir auf die Blumen. Er braucht Murmeltiere und Hasen, wie wir den Klee oder die Soldanelle. Er trinkt das Blut seiner Opfer, wie wir den Tau aus den Kelchen des Enzian oder aus den Bechern des Frauenmantels schlürfen. Die Natur bestimmt, daß es wenigstens einen Geierhorst in jedem Tal gibt, oft zwei, oft mehr. Die Natur hat diese ewige Drohung über alle Lager und alle Baue verhängt, über alles, was weidet und nistet. Warum hat sie diese Tyrannen der Luft erschaffen? Warum hat sie ihnen die wohnbare Welt zugeteilt? Wer weiß es? Die Natur hat ihre geheimnisvolle Pläne, ihre ehernen Gesetze, in die wir nicht eindringen können, die wir aber erdulden müssen. Glücklich die Unfruchtbaren! Glücklich die Gattinnen, die nicht gesäugt haben; denn für den Geier füllen sie die Lager und Baue. Mit dem Geier schwebt der Geist des Mordes am Himmel und über der Erde.
Es ist weniger schrecklich, unter die Zähne des Hundes zu fallen, als in die Klauen des Geiers. Der Hund entführt uns nicht, er zerreißt uns nicht langsam, er zerstückelt uns nicht; er erwürgt uns und alles ist zu Ende.
Nichtsdestoweniger ist der Hund scheußlicher und grausamer als der Geier. Er hat nicht Hunger, er jagt, um zu jagen, er erwürgt, um zu erwürgen. Gewisse Rassen sind ihm verhaßt, er muß sie vernichten. Das ist eine Notwendigkeit seiner Natur, ein unwiderstehlicher Instinkt. Wir armen Murmeltiere gehören zu diesen verhaßten; auch die Hasen sind darunter. Was haben wir ihm angetan? Welchen Schimpf muß er mit unserem Blute abwaschen? Was gibt es Gemeinsames zwischen ihm und uns? Er haßt uns wegen des Bösen, das wir ihm nicht angetan haben. Die Unschuld ist ihm verhaßt.
Wild geboren, hat der Hund in der Sklaverei seine widernatürlichen Instinkte ausgebildet. Denn der Hund ist der Sklave des Menschen. Die Mehrzahl der Tiere werden fett in der Knechtschaft und schwer, faul zum Jagen, schwerfällig zum Laufen. Der Hund dagegen wird unersättlicher, hitziger, geschickter und gewandter. Die Menschen unterrichten ihn. Sie beenden das Werk, das von der Natur nur angedeutet wurde. Zu dem instinktiven Haß, den der Hund gegen uns besitzt, kommt nun als neues Reizmittel der Wunsch hinzu, seinem Herrn zu gefallen. Wenn er einen Hasen oder ein Murmeltier packt, so legt er sein Opfer zu Füßen des Menschen, der ihm schmeichelt und ihn liebkost. Der Hund ist gierig nach diesen Liebkosungen. Er krümmt sich vor Behagen und ist vor Freude außer sich unter der Hand, die ihn streichelt. Niemand verlangt die Freiheit mit gleicher Inbrunst wie der Hund den Preis seines Gehorsams. Er hat Gefallen an der Niederträchtigkeit. Man sagt, daß ihm der Mensch den Abfall der Jagd, die Eingeweide des Opfers, als Fraß vorwirft, und daß dieser ekelhafte Schmaus für ihn Ehre und Ruhm bedeutet.
Der Hund besitzt kein feines Ohr, er besitzt auch kein durchdringendes Auge; aber er hat einen außerordentlichen Geruchsinn. Kein anderes Tier weiß so geschickt eine Spur zu entdecken und zu verfolgen; dies läßt ihn gefährlich werden. Er läuft mit gesenktem Kopf, wittert nach rechts und nach links. Der allergeringste Geruch eines Hasen oder eines Murmeltiers läßt ihn plötzlich zusammenfahren und erfüllt ihn mit einer wilden Trunkenheit. Er stürmt los, folgt der Spur mit der ganzen Geschwindigkeit seiner langen und schlanken Beine und stößt ein wildes Geheul aus. Er gibt einen besonderen Laut von sich, wenn er jagt. Es tönt wie eine Mischung von Raserei und Wollust. Er kennt die Ermüdung nicht. Die allerentlegensten Einsamkeiten, die glühende Sonne, der Schnee oder der nackte Fels, sie kümmern ihn nicht; er rennt Stunden, Tage keuchend herum mit schrecklich heraushängender Zunge, erschöpft, mit blutigen Füßen. Wenn die Kräfte ihn verlassen, so treibt ihn die Leidenschaft weiter.
Gewisse lang und niedrig gebaute Hunde bringen es fertig, in unsere Baue einzudringen. Glücklicherweise sind unsere Stollen eng, so daß sie gezwungen sind, zu graben, um sie zu verbreitern. Währenddessen haben wir Zeit, durch einen andern Ausgang zu entwischen, oder wir graben uns etwas tiefer ein. Ich sah einmal im langen Hauptgang meines Baues plötzlich die Augen eines Hundes aufleuchten. Er war bis zu einer Verengung gekommen, die von einer Arvenwurzel verursacht wurde, und konnte nicht mehr vorwärtsdringen. Wir blickten uns gegenseitig an, er wütend, ich ruhig. Das dauerte Stunden. Ich sehe sie noch vor mir, diese entsetzliche Auge; und wenn ich zehn Murmeltierleben lebte, ich würde sie immer noch sehen. Sie drückten nur eines aus, den Blutdurst.
Ein Hund ist stärker als ein Murmeltier. Immerhin, wenn die Murmeltiere wirklich wollten, wenn sie es verständen, sich zu einigen, würden sie leicht Herr über diese herumstreifende Hunde, die allein in den Bergen jagen. Aber jede Murmeltierfamilie lebt für sich und nur für sich. Die Kinder flüchten, die Mutter flüchtet, der Vater flüchtet. Niemand denkt an Widerstand. Es ist freilich wahr: Wenn man den Hund hört, hat man allen Grund, anzunehmen, daß auch der Mensch nicht mehr weit ist, dieser Tyrann, diese Vogelscheuche der Schöpfung!
Fünfter Tag
M.02.06.01.05 / M.135
Ich glaube, es ist gut, ein wenig vom Menschen zu sprechen.
Es gäbe zweifellos ebenso viele Menschenarten wie Menschen, wenn man sie nach den Fellen einteilen würde, die sie zum Auswechseln besitzen, Diese Felle sind in Form und Farbe nämlich sehr verschieden. Der Mensch zieht sie nach seinem Gutdünken an oder legt sie weg. Man nimmt aber allgemein an, daß diese Felle ihm nicht angeboren sind, sondern daß er sie herstellt. Alles, was ich während der Zeit meiner Gefangenschaft wahrnehmen konnte, hat mich in dieser Ansicht bestärkt. Es ist eine Eigenart des Menschen, daß er eine Menge Dinge vollbringt, die kein anderes Tier je gemacht hat noch jemals machen wird.
Der Mensch ist das mißratenste aller Tiere. Er besitzt eine Mähne, die bei den einen das ganze Gesicht umrahmt, während sie bei andern nur die obere Hälfte des Kopfes beschützt. Sie fällt ihm mit dem Alter aus, das heißt zur Zeit, wo er sie am nötigsten bräuchte, um sich vor der Kälte zu schützen. Man weiß übrigens nicht genau, zu was sie ihm dient. Die am stärksten damit versehen sind, tragen dennoch eine Bedeckung auf dem Kopf. Soviel man beurteilen kann, ist der Rest des Körpers nackt außer den Fellen, mit denen man ihn einwickelt. Die andern Tiere besitzen alle eine Farbe; die Kuh ist schwarz, rot oder weiß gefleckt; der Hase ist im Winter weiß, im Sommer rötlich; der Bär ist braun; das Murmeltier hat ein anmutiges Fell, das vom Grauen ins Schwarze spielt. Die Haut des Menschen allein hat keine bestimmte Farbe. Sie ist halb duchscheinend und läßt Fleisch und Blut erahnen. Dies ist ohne Beispiel in der Natur. Sogar der Mensch selbst hat ein Gefühl für diese Ungeheuerlichkeit, und dies ist wahrscheinlich der Grund, warum er sich mit falschen farbigen Fellen bedeckt. Aber er behält das Gesicht frei und die Hände ebenfalls, was sehr dazu verlockt, hineinzubeißen. Wenn ich ein wildes Tier wäre, so würde ich viele Menschen fressen.
Der Mensch setzt sich wie wir und hält sich auf den hintern Füßen aufrecht; dagegen kann er nicht auf allen Vieren gehen. Das Wahre ist, diese beiden Methoden je nach Bedarf zu benutzen, wie es die Murmeltiere tun. Der Mensch steht nicht fest auf seinen zwei Füßen, es sieht immer aus, wie wenn er am Straucheln und Fallen wäre. Oft bedient er sich eines Baumzweiges, um seinen langsamen und linkischen Gang zu stützen. Er läuft schwerfällig. Wie könnte er auch leichtfüßig rennen, gebaut wie er ist. Es gibt gar kein Verhältnis zwischen den dicken und unförmlichen Pfeilern seiner Hinterbeine und seinen Vorderfüßen, die kürzer und schlanker sind, und die er nur als Arme verwenden kann. Auch wir tun das hie und da, aber nur wenn dies uns behagt.
Der Mensch wäre das ungefährlichste aller Tiere, denn er ist das allerunbeholfenste, wenn er nicht durch Geschicklichkeit das ersetzte, was die Natur ihm verweigerte. Er hat keinen Geruchsinn, kein Gehör, seine Sehkraft ist eine ganz gewöhnliche; aber er hat einen erfinderischen Geist. Er setzt an seine Augen ein langes Instrument, mit dessen Hilfe er seine Beute auf jede Entfernung entdeckt; er trägt gewöhnlich auf der Schulter ein anderes, noch längeres Instrument, das er gegen seine Opfer richtet, und aus dem er Feuer und Rauch treten läßt und kleine runde schwere Steine, die auf die Entfernung die treffen, die er erreichen will. Es kann nur ein Gott sein, der ihn lehrte, so mit dem Feuer umzugehen. Warum gerade ihn eher als andere? Eher als uns zum Beispiel? Was hat der Mensch denn getan, um diese Gunst zu verdienen? Ist es ein Verdienst in den Augen des Himmels, unschuldiges Blut zu vergießen?
Der Mensch besitzt einen Zauber: Gewisse Arten von Tieren beugen sich vor ihm, erkennen ihn offen als ihren Herrn an und dienen ihm mit Leidenschaft. Die andern wieder fürchten und hassen ihn. Er ist nicht blutdürstig wie der Geier, man hat ihn nie das Fleisch seiner Opfer zerreißen noch ihr Blut trinken sehen. Er ist nicht für den Mord geboren. Er hat weder scharfe Krallen, noch einen krummen Schnabel, noch spitze Zähne. Er jagt trotzdem, aber kaltblütig. Er scheint gegen uns keinen instinktiven Haß zu haben. Er ist nicht grausam, er ist nur ehrgeizig und neidisch. Der Mensch will, daß man ihm einen Tribut der Unterwerfung zahle. Seine Leidenschaft ist es, zu herrschen oder wenigstens herrschen zu glauben. Er umgibt sich gerne mit Sklaven. Jedes freie Wesen ist ihm ein Schimpf. Sein Traum wäre, der umfassende Herr zu sein. Er wird ihn nicht verwirklichen, bevor er nicht die freien Kinder der Berge von der Erde gefegt hat. Daran arbeitet er. Er tötet uns, weil er uns nicht zur Dienstbarkeit zwingen kann. Das ist seine Art, sich wegen seiner Ohnmacht zu rächen. Töte er so viel er möge, wir werden ihm nicht die Freude bereiten, ihm Gefolgschaft zu leisten. Die Rassen, die zur Freiheit geboren sind, werden den Menschen und seine Schergen ewig hassen.
Das Reich des Menschen vergrößert such zusehends. Bei seinem Vorrücken breitet sich Einöde um ihn aus, die er mit seinen Kreaturen bevölkert. Durch welchen Einfall hat die Natur dieses mißratentste Wesen, das aus ihren Händen hervorgegangen ist, zur Regentschaft bestimmt? Ich verstehe es nicht; aber eins ist sicher: Der Mensch vermehrt sich, und die Murmeltiere nehmen ab. Von unseren früheren Mengen blieben nur noch ein paar Stämme im Talhintergrunde übrig; auch dieses ist ein wenig sicheres und immer mehr verletztes Asyl. Unsere Vorfahren erinnerten sich nicht, daß sie je in diesem Tale die Silhouette eines Menschen sich auf den Graten der Gipfel gegen den Himmel abzeichnen sahen. Das sieht man jetzt, wenigstens im Sommer, fast jeden Tag. Sie hissen sich dort in Karawanen von Fels zu Fels. Sie stoßen und ziehen einander, sie tun es so lange, bis es ihnen gelingt. Man muß dann hören, wenn sie den Gipfel erreicht haben, wie sie mit großem Freudengeschrei den Sieg feiern, den sie über ihre Ungeschicklichkeit davongetragen haben. Der Mensch will nicht nur über die Tiere herrschen, sondern über die Erde selbst. Er schwor, keinen einzigen Ort von seiner Gegenwart unbeschmutzt zu lassen. Soviel Hochmut aber wird und muß die Geduld des Himmels erschöpfen. Wenn die Welt nicht für den Trumph der Ungerechtigkeit geschaffen wurde, so muß der Mensch und sein Ruhm vorübergehen.
Ich machte in meiner Gefangenschaft eine erstaunliche Entdeckung: der Mensch könnte gut sein, er ist es sogar hie und da. Vergebens sträubte sich alles in mir, daran zu glauben, aber ich sah in seinen Augen einen sanften Strahl des Mitleids glimmen. Es braucht einige Angewöhnung, sich hierein nicht zu täuschen. Seine bewegliche Augen, die mitten im Gesicht stehen, flößen Furcht ein beim ersten Anblick. Kein Tier hat einen bestimmteren und keines einen flüchtigeren Blick. Man ist nie sicher vor diesen Augen. Mit der Zeit jedoch lernt man in ihnen lesen. Man liest am häufigsten Gedanken des Hochmuts oder der Schurkerei; aber ich las hie und da auch ganz bestimmt Gedanken der Güte. Am Tag, da mich der Mensch mit der langen feinen Mähne, der mir ein paar Arvenkerne schenkte, in die Berge zurücktrug, sah ich in seinen falschen blauen Augen ein wirkliches Lächeln. Ich bin jetzt überzeugt, daß er mir die Freiheit schenken wollte. Man glaubt, daß diese Menschen mit den feineren Mähnen Weibchen sind. Ich glaube es auch, und das erklärt, warum mehr Milde in ihren Bewegungen und in ihrem Ausdruck ist. Aber nicht sie allein sind fähig zum Wohlwollen. Der Mensch, der morgens und abends die Kuhmilch holte, hatte doch gewiß eine zerzauste Mähne und wilde Züge. Dennoch sah ich auch seine Augen glänzen, während er seine Hand um den Hals der braunen kleinen Kuh legte, die er niemals zu liebkosen vergaß. Er wünschte auch mir nichts Übles. Gerne hätte er mir einen Teil seiner Liebkosungen geschenkt. Ich wies sie wegen meiner Gefangenschaft zurück, und ich würde sie auch heute noch in der Freiheit zurückweisen. Denn was soll man schließlich von einem Wesen denken, das fähig zum Wohlwollen ist und darin doch nicht seine Befriedigung findet? Dies ist unerhört in der Schöpfung. Ich verstehe den Geier, der nichts von Erbarmen weiß; ich verstehe den Hund, der aus nichts als Niedertracht und Wildheit besteht. Aber der Mensch! Warum hält er die gefangen, die er lebt? Warum vergießt er das Blut derer, mit denen er Mitleid hat? Was ist das für eine Denkweise, die darin besteht, heute mitleidig zu sein und morgen unerbittlich? Ich rufe den Himmel zum Zeugen an: es gibt ein Tier, das gut sein könnte und das schlecht sein will. Dieses Scheusal nennt sich Mensch. Das Glück überhäuft ihn mit seiner Gunst, und er stürmt anmaßenden Schrittes zur Herrschaft der Welt.
Der Mensch ist nach dem Murmeltier das größte Rätsel der Natur.
Siebenter Tag
M.02.06.01.07 / M.136
Es tat mir wohl, hier alles zu sagen, was ich über unsere Verfolger denke. Das entschädigte mich für die Dent Noire. Ich fühle mich wesentlich erleichtert.
Erstes Viertel
Erster Tag
M.02.06.02.01 / M.137
Der erste Gedächtnistag des Todes des Schneehasen. Ich habe ihn während eines ganzen Monds beweint, ich werde noch mehrere Monde um ihn trauern.
Man lehrt allen Murmeltieren schon in ihren ersten Lebenstagen, daß es eine Vorsehung gibt, und daß die Götter für Gerechtigkeit im Himmel und auf Erden sorgen, daß sie die Guten in allem Vorhaben begünstigen und die Schuldigen sicher bestrafen. Ich frage mich, ob diese Religion nicht aus einer Zeit stammt, in der die Rasse der Murmeltiere die blühendste all derer war, die die Berge bewohnen. Es ist eine Religion glücklicher Leute. Die Menschen müssen heutzutage eine ganz ähnliche besitzen. Wir armen Murmeltiere glauben, was wir noch können! Ich bin sicher, daß die Menschen von ihr selbst überzeugt sind.
Zweiter Tag
M.02.06.02.02 / M.138
Der Augenblick ist gekommen, sich aufzuraffen. Die Jahreszeit rückt vor. Man muß entweder auf die Philosophie verzichten oder sich für die Wachen der Langen Nacht vorbereiten.
Nachdem die Menschen in der letzten Zeit ihre Anwesenheit durch ein schauerliches Gemetzel unter den Murmeltieren dokumentiert hatten, zogen sie sich heute auf die unteren Alpweiden zurück. Die Herden gingen voraus. Sie vollführten mit ihren Glocken einen blödsinnigen Lärm.
Dritter Tag
M.02.06.02.03 / M.139
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich durchdrungen und überzeugt, daß ein tiefer Sinn und eine große Wahrheit in den letzten Worten des Schneehasen liegt. Der Schlaf der Langen Nacht hätte also zur einzigen Ursache die Kälte, die von außem nach innen dringt; es wäre ein Phänomen gleicher Art wie das des Frierens und Auftauens. Wenn die Lange Nacht lange genug dauerte, daß die Abkühlung eine vollständige wäre, so würden wir sterben; aber die Abkühlung ist keine vollständige. Es bleibt im Herzen ein Wärmeherd, dessen Tätigkeit die Oberhand gewinnt, sobald die Temperatur milder wird.
Diese Theorie hat viel Wahrscheinlichkeit für sich. Etwa Ähnliches erleben die Pflanzen, die nicht zugrunde gehen beim Herannahen der Langen Nacht. Die Buchen in den Taltiefen zum Beispiel oder die Lärchen sind äußerlich gefroren, wenn wir von unserem Schlaf erwachen. Sie haben keine Blätter mehr, das Holz ist voll Frost, und der Saft zirkuliert nicht mehr. Aber es bleibt im Mittelpunkt ein Lebenszentrum, das seine Wärme dem Stamm und den Zweigen abgibt, sobald die Jahreszeit günstig genug ist.
Die gleiche Theorie würde im übrigen auch den Instinkt erklären, der und dazu treibt, unsern Bau mit Heu auszustopfen, unsere Stollen dicht zu verschließen und uns so nahe wie möglich aneinander zu pressen, um dann einzuschlafen. So verstünde man auch unsere Unempfindlichkeit während dieser Schlafperiode. Das gänzlich frostdurchkältete Fell ist gefühllos, ist wie tot. Man müßte tief stechen, bis wir etwas spürten.
Wenn andere Tiere diesem Schlaf nicht unterworfen sind, müssen sie eben ein heißeres Blut besitzen oder einen besseren Pelz, vielleicht beides zugleich.
Je mehr sich diese Erklärung in mir festigt, desto größer ist mein Ungeduld, ein erstarrtes Murmeltier zwischen meinen Pfoten zu halten. Wann wird dies sein?
Vierter Tag
M.02.06.02.04 / M.140
Ich fühle mich wie neugeboren und aufgeheitert. Ich bin sichtlich auf der richtigen Spur. Habe ich einmal dieses Ziel erreicht, so ergibt sich alles weitere von selbst.
Fünfter Tag
M.02.06.02.05 / M.141
Ich sah heute einen Schneehasen in einiger Entfernung an meinem Bau vorüberlaufen. Ich weiß ungefähr, wo sein Lager ist. Es wäre für mich nicht schwierig, mit ihm eine Freundschaft anzufangen wie mit dem andern. Aber der, den ich liebte, ist tot. Ich werde ihm keinen Nachfolger geben; wenigstens heute noch nicht.
Ich beobachtete, daß sein Haar schon weiß wurde. Ich schließe daraus, daß die Lange Nacht dieses Jahr frühzeitig beginnt.
Sechster Tag
M.02.06.02.06 / M.142
Wenn meine Theorie richtig ist, so begreife ich unschwer, warum meine vorhergehenden Experimente fehlschlugen. Mich hatte eben der Frost übermannt. Aber was für eine Idee war es auch, mir einen Bau höher oben zu graben als alle Murmeltiere und dazu noch auf der Schattenseite des Tales! Ich errate jetzt, warum ich als letzter erwachte. In einer kälteren Gegend taut man natürlicherweise auch später auf. Wenn ich nicht auch früher einschlief, so ist dies nur meiner gewaltigen Willensanstrengung zuzuschreiben. Was ich litt, ist mir nun kein Geheimnis mehr.
Diesmal will ich vernünftigere Maßnahmen treffen. Ich werde damit beginnen, mir einen sehr warmen Bau zu graben auf der anderen Talseite, am sonnigsten Ort, und so tief unten als möglich. Ich will von morgen an kundschaften, um einen geeigneten Platz zu finden. Bleibt es mir nicht erspart, ebenfalls einzuschlafen, so könnte ich das jedenfalls bis zu einem späteren Zeitpunkt hinauszögern. Jedenfalls würde ich Zeit finden, wenigstens eine Reise zu unternehmen, um die ersten in ihren Behausungen eingeschlafenen Murmeltiere betrachten zu können.
Vollmond
Vierter Tag
M.02.06.03.04 / M.143
Ich verbrachte drei Tage auf Reisen. Ich stieg sehr tief hinunter, viel tiefer als die Alpweiden, auf denen gegenwärtig die Menschen mit ihren Herden weilen.
Endlich fand ich einen Ort nach meinem Wunsch auf der andern Seite des Wildbaches. Es ist ein schroffer Hang, durchsetzt von großen weißen Felswänden und bedeckt mit dichtestem Gestrüpp und Baumbestand. Es ist sehr heiß unter diesen Felsen, auf denen unterbrechungslos die Sonne brennt. Man könnte sich dort einen Bau inmitten der angehäuften Trümmer graben.
Trotz der Nähe des Menschen hoffe ich dort in Sicherheit zu sein. Ich sah seine Spuren nirgends. Dieser Wald allein scheint von diesem großen Zerstörer der Wälder respektiert zu werden. Der Zugang ist ohne Zweifel zu schwierig. Die Bäume stürzen infolge hohen Alters um, und die auf dem Boden angesammelten Überreste faulen seit Jahrhunderten.
Ich werde immerhin warten, bis die Menschen taltiefer gezogen sind.
Fünfter Tag
M.02.06.03.05 / M.144
Es wundert mich nun nicht mehr, daß ich das letztemal unterlag. Ich friere hier oben schon, trotzdem noch keine einzige Schneeflocke gefallen ist.
Sechster Tag
M.02.06.03.06 / M.145
Die Menschen wollen nicht abziehen. Ich kann nicht länger warten.
Siebenter Tag
M.02.06.03.07 / M.146
Die Menschen sind immer noch da. Was kümmert’s mich? Ich gehe heute. Ich wende mich an die Götter, die man gerecht nennt. Ihnen überlasse ich die Sorge, mich zu beschützen.
Ich kann tatsächlich nicht mehr länger warten. Ich habe viel zu tun dort unten, um bereit zu sein.
Meine Tafeln befinden sich wohl verwahrt in ihrer Kammer. Ich will meinen Bau vermauern, wie wir es gewöhnlich tun, damit man ihn für bewohnt hält.