Das Murmeltier mit dem HalsbandTagebuch eines Philosophen
Teil II - LiebesmondZweiter Sommer
Neumond
Sechster Tag
M.02.02.01.06 / M.063
Ein durch die Schneeschmelze angeschwollener Bach hielt mich dort unten auf der Weide gefangen. Ich grub mir ein bescheidenes Loch von zwei Murmeltierlängen und verbrachte fünf Nächte darin.
Die Berge veränderten sich stark während dieser wenigen Tage. Sie sind auf der Sonnseite bereits vom Schnee befreit. Der Boden ist auf weite Strekken aper, der Schnee von den Felsen in die Taltiefen gestürzt. Heute sind einige Lawinen auf der Schattenseite in Bewegung geraten. Aufgepaßt morgen, wenn dieser Wind andauert!
Siebenter Tag
M.02.02.01.07 / M.064
Jetzt bin ich von neuem Gefangener, aber diesmal bei mir zu Hause. Die Lawinen rauschen ohne Unterlaß rechts und links an meinem Bau vorüber. Ich laufe keine Gefahr, weil sie die Schlucht folgen, und doch mache ich mich ganz klein vor dem Eingang meines Loches. Ich rücke eine Bartlänge vor, gerade genug, um etwas zu sehen, und wenn eine Lawine kommt, kauere ich mich in meinen Stollen. Sie wirft sich in den Rinnen wütend von einer Wand zur anderen, sie säubert die Gesimse, führt Steinblöcke mit sich und entwurzelt Felsen. Der Boden erzittert bis in die Tiefe meines Baues. Wenn sie in den Abgrund unter mir springt, dann ist sie prachtvoll anzuschauen. Es scheint mir, als ob ich mit ihr falle und ins Leere tauche. Es ist dies ein seltsames Gefühl, das mich im Herzen kitzelt.
Erstes Viertel
Erster Tag
M.02.02.02.01 / M.065
Dieses Donnern hört nicht auf. Muß es da oben noch Vorräte haben!
Übrigens ist meine Gefangenschaft keine harte. Einige weiße Knospen beginnen sich vor meinem Bau zu zeigen, gerade genug, um den größten Hunger zu stillen.
Zweiter Tag
M.02.02.02.02 / M.066
Ich benutzte meine Gefangenschaft, um mein Tagebuch zu überlesen. Ich muß bekennen, daß es mir an Bescheidenheit fehlte. Ich fühlte mich des Erfolges allzu sicher. Es genügt nicht zu sagen: Ich will nicht schlafen! Man muß wachen.
Dritter Tag
M.02.02.02.03 / M.067
Ich sah meine zwei Gemsen vom letzten Herbst vorüberziehen. Ein Junges, das wenigstens acht Tage alt war, trottete ihnen nach.
Seltsame Rasse! Sie haben keinen Liebesmond. Wenn sie sich aufsuchen, wie die Natur es gebietet, muß man dies während der Langen Nacht sein. Kaum ist sie vorbei, haben sie auch schon Familienzuwachs. Es kommt sogar vor, daß sie schon Junge haben, wenn wir aus unserm Bau hervorkommen.
Vierter Tag
M.02.02.02.04 / M.068
Die größte Lawine ist angegangen. Ich könnte jetzt, wenn ich den richtigen Augenblick wähle, die Lawinenrinnen überqueren; aber es ist nicht mehr nötig. Die Knospen sprießen überall aus der Erde hervor. Es findet sich genug zum Leben rings um meinen Bau.
Fünfter Tag
M.02.02.02.05 / M.069
Ich gab heute meinem Gusto für einen Extrabissen nach. Ich nahm ein Soldanellenfrühstück ein, das erste des Jahres. Gewisse Hänge sind rosafarben von diesen zartesten Blümchen des Frühlings. Wenn man sie gegen die Sonne betrachtet, sieht man in ihrem Fleisch zwischen den Adern eine Menge von unendlich kleinen Kristallen funkeln. Besitzt der Tisch der Götter etwas Auserleseneres als diese kristallhellen Blumenkronen, die auf der Zunge schmelzen wie Ambrosia?
Die Soldanelle beim Morgengrauen zu fressen, wenn ihre kleine Glocke, gegen die Erde geneigt, noch feucht ist vom Tau, das ist ein Genuß, das der wenigstens dieses eine Mal gerechte Himmel einzig dem Geschlechte der Murmeltiere vorbehalten hat.
Sechster Tag
M.02.02.02.06 / M.070
Dieser Unterschied, den man unverzüglich nach der Langen Nacht zwischen den beiden Talseiten bemerkt, ist eine ganz merkwürdige Erscheinung. Es ist ja natürlich, daß dieselbe Schneemenge auf der Sonnseite schneller schmilzt als auf der Schattenseite. Aber warum ist am ersten Tage nach der Langen Nacht, bevor noch die Sonne hat wirken können, immer auf der Sonnseite am wenigsten Schnee?
Gewisse Dinge, die ganz einfach erscheinen, weil man daran gewöhnt ist, sind doch nicht weniger befremdlich. Ich frage, warum mehr Schnee auf der einen als auf der anderen Seite fällt. Wenn es der Wind ist, der ihn dort wegweht, warum denn immer dort und nie hier?
Siebenter Tag
M.02.02.02.07 / M.071
Eine Idee beginnt sich in meinem Hirn einzunisten. Ich fürchte, daß unsere Verleumder recht haben, und daß die Lange Nacht keine lange Nacht ist.
Vollmond
Erster Tag
M.02.02.03.01a / M.072
Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr bin ich davon überzeugt, daß sich die Tage und Nächte wenigstens während eines Teiles der Langen Nacht fortsetzen. Es ist vielleicht demütigend zu denken, daß die Sonne auf- und niedergeht, während wir schlafen; aber wenn es wirklich so ist, muß man sich unser Gehirn damit abfinden. Die Weisheit besteht darin, die Dinge zu sehen, wie sie sind, nicht sie nach dem Belieben unserer Phantasie zu drehen.
Wenn die Sonne weiterhin während der Langen Nacht auf- und untergeht, so erklärt sich die ungleiche Verteilung des Schnees bei unserem Erwachen sehr einfach. Er fällt gleichmäßig auf beiden Seiten, aber drüben schmilzt er zum Teil, während er sich hier im Schatten anhäuft.
Das Rätsel im Leben der Gemsen lost sich auf diese Weise ebenfalls. Die Gemse hat ihren Liebesmond wie wir und wie alle anderen Tiere; aber wir schlafen während dieser Zeit.
Nimmt man diese Voraussetzungen an, so sind die Unregelmäßigkeiten der Sonne nur noch scheinbar. Die Sonne ist und kann nicht unregelmäßig sein. Alles, was unsere sogenannten Weisen in dieser Beziehung sagten, ist lauter Schwindel. Ebenso wie die Sonne während der Reihe der zunehmenden Tage gegen Norden wandert bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, der sich niemals verändert hat seit Murmeltiergedenken; ebenso muß sie während der Reihe der abnehmenden Tage im entgegengesetzten Sinne wandern bis zu einem gewissen ebenfalls festen und unveränderlichen Zeitpunkt. Wenn aus Gründen, die ich nicht kenne, die ich aber zu entdecken hoffe, unser Schlaf gegen das Ende der abnehmenden Tagreihe beginnt und sich lange in die zunehmenden Tage hineinzieht, wenn er sich außerdem mehr oder weniger von einem Jahr zum andern verändert, so sind die Abweichungen der Sonne erklärt. Sie ist regelmäßig, und wir sind es nicht. Ist es ihr Fehler, wenn wir früher oder später einschlafen und erwachen? Ist es ihr Fehler, wenn unser Schlaf ungleich auf die zwei Tagreihen fällt?
Erster Tag
M.02.02.03.01b / M.073
Wie fühlt man sich doch erleichtert, wenn man ein Vorurteil von sich abgeschüttelt hat! Es erfaßt mich eine wilde Lust, von meinem Berge herunterzusteigen und alle falschen Weisen dort unten zu einer Auseinandersetzung einzuladen. Das müßte schon eine Abklärung geben!
Es gibt keine Lange Nacht; es gibt nur einen langen Schlaf. Wie lange dauert er? Ich bin noch nicht in der Lage, bestimmt auf diese Frage zu antworten; aber viele Anzeichen weisen darauf hin, daß es sich um mehr als einen Mond handeln muß, vielleicht um zwei.
Der Gedanke ist logisch, daß die Zeit der Trächtigkeit für das Weibchen der Gemse nicht weniger lang sein kann als die des Murmeltiers. Sie müßte eigentlich in der Regel beträchtlicher sein. Da hätten wir also schon wenigstens vierzig Tage.
Man kommt zum gleichen Resultat, wenn man die Ungleichheiten in der Reihe der abnehmenden und zunehmenden Tage betrachtet. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, braucht man wenigstens einen Mond, ohne zu zählen, was bei den Monden fehlt, die nur angeschnitten sind, wenn wir einschlafen und wenn wir erwachen.
Da hätten wir also schon einen Schlaf von fast zwei Monden, während denen die Sonne auf- und niedergeht, ohne daß wir die Augen öffnen.
Werde ich es niemals fertig bringen, während zweier Monde zu wachen?
Zweiter Tag
M.02.02.03.02 / M.074
Ein junges Pärchen läßt sich einige hundert Schritte von mir entfernt auf der Terrasse häuslich nieder.
Ich sah sie schon gestern kommen und in der Umgebung herumstreifen. Heute sind sie wieder da und wählen ihren Wohnplatz unter einem großen Block. Sie beginnen in der Erde zu scharren. Ich frage mich, ob ich auswandern soll.
Dritter Tag
M.02.02.03.03 / M.075
Meine Nachbarn arbeiten abwechslungsweise, was sie nur können. Ich weiß noch nicht, zu was ich mich entschließen werde.
Vierter Tag
M.02.02.03.04 / M.076
Wenn ich junges Pärchen sage, so muß dies richtig verstanden werden. Man weiß ja, wie es bei den Murmeltieren zugeht, und nicht nur bei ihnen. Es gibt jedes Jahr Witwer und Witwen, für gewöhnlich mehre Witwen. Unsere Frauen sind ja so klug! Die gleichmäßige Verteilung ist also nicht immer vollkommen, auch nicht unter den Jungen. So muß wohl hie und da ein Junger eine Alte heiraten oder ein Alter eine Junge. Meine Nachbarin scheint eine Person von gereiftem Alter zu sein. Nur eine Matrone besitzt eine solche Befehlshabermiene. Ich wette, daß ihre Urenkel dort unten beim Stamm schon zahlreich sind. Mein Nachbar ist ein junger, leichtsinniger Kerl, der immer so aussieht, als ob er Maulaffen feilhielte; dazu ist er linkisch, furchtsam und zerstreut. Meine Nachbarin wird ihn von seiner Geistesabwesenheit zu heilen wissen.
Fünfter Tag
M.02.02.03.05 / M.077
Ich zeigte mich heute kühn. Ich hoffte, daß das Halsband seine Wirkung tue. Sie schienen es nicht zu bemerken.
Es ist, wie ich dachte: ein schlecht zueinanderpassendes Pärchen.
Sechster Tag
M.02.02.03.06 / M.078
Ich begab mich heute morgen zu den Jungvermählten, um ein für allemal unsere ferneren Beziehungen zu regeln. Ich brachte ihnen Vorschläge des Friedens und der guten Nachbarschaft, die auf dem Grundsatz beruhten, daß man keine Notiz voneinander nehmen wolle. Was habe ich mit Murmeltiermännchen zu schaffen, die mit gesenktem Kopf in die Falle gehen, die ihnen die weibliche Arglist stellt, was mit alternden Matronen, die, anstatt ihren “Seligen” zu beweinen, nur daran denken, einen neuen zu erschnappen? Was wissen die von der Weisheit? Sie kennen sie höchstens dem Namen nach.
Der Gatte flüchtete sich, anstatt seine bessere Hälfte zu verteidigen, sobald er sah, daß mein Besuch wirklich ihnen galt. Er würde immer noch rennen, wenn ihn seine Frau nicht zurückgerufen hätte. Ihr muß ich die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie das erste Murmeltier ist, das vor meinem Halsband nicht zitterte.
Sie hörte mir zu, ohne die geringste Erregung zu zeigen. Sie saß mit vorgeneigtem Kopf und herabhängenden Vorderpfoten. Als ich zu sprechen aufhörte, verzog sie den Mund und antwortete mit gleichgültiger Miene:
“Es wird so sein, wie Sie wünschen, mein Herr.”
Nach diesen Worten empfahl sie sich bestens und trat wieder zu ihrem Gemahl, der sich furchtsam genähert hatte.
Dies wäre also getan.
Siebenter Tag
M.02.02.03.07 / M.079
Meine Nachbarin kann wohl die Geringschätzige spielen, die Neugierde verzehrt sie doch. Sie kam nach langem Hin- und Herstreifen meinem Bau bis auf einige Schritte nahe. Sie hätte doch zu gerne gewußt, was dieser Philosoph trieb. Es war vergebene Liebesmüh. Der Philosoph hatte sich in seine Höhle zurückgezogen… Der Herr Gemahl folgte aus der Entfernung.
Letztes Viertel
Erster Tag
M.02.02.04.01 / M.080
Eine sichtliche Wandlung. Gestern noch blies ein glühend heißer Wind; heute schneit es. Es ist immer so mit diesem warmen Wind. Solange er weht, ist alles gut; sobald er nachläßt, ist der Schnee auch schon da.
Dritter Tag
M.02.02.04.03 / M.081
Es schneit alle Tage und den ganzen Tag.
Vierter Tag
M.02.02.04.04 / M.082
Ich friere; es ist, wie wenn ich von neuem erstarrte. Ich mußte einen Stollen durch den Schnee graben, um meinen Bau verlassen zu können.
Fünfter Tag
M.02.02.04.05 / M.083
Ein Gedanke schoß mir durch das Hirn und ließ mich zusammenzucken. Wenn dieses Wetter anhält, werde ich vielleicht die verpaßte Gelegenheit wiederfinden. Meine Nachbarn werden schlafen. Welch ein Glück, daß sie vor meinen Toren Wohnung nahmen!
Sechster Tag
M.02.02.04.06 / M.084
Ich benutze jeden Augenblick der Aufhellung, um zu spähen. Der Gatte ist seit gestern morgen nicht herausgekommen. Wenn er nicht schläft, so muß er doch nahe dran sein. Mit der Alten werde ich nicht so leicht fertig werden. Sie lauert und schaut immer gegen meine Seite. Was will sie von mir? Wartet sie auch darauf, daß ich einschlafe?
Siebenter Tag
M.02.02.04.07 / M.085
Der Nordwind nahm diese Nacht überhand. Er blies mit solcher Heftigkeit, und er was so kalt, daß ich meinen Stollen verschloß. Als ich wieder herauskam, befand sich kein Schnee mehr vor meinem Bau am Rande des Abgrunds. Der Wind hatte ihn weggetragen.
Meine Nachbarn hatten dieses Glück nicht. Sie sind unter dem Schnee begraben. Meine Hoffnung wächst immer mehr, sie schlafend zu sehen.