Das Murmeltier mit dem HalsbandTagebuch eines Philosophen
Teil III - LawinenmondDritter Sommer
Vollmond
Dritter Tag
M.03.01.03.03 / M.164
Geben wir den kommenden Jahrhunderten das erstaunlichste aller Abenteuer kund!
Ich brach auf in dem Augenblick, als der erste Mondstrahl über meinem Bau erglänzte. Ich war voll Begeisterung, und es schien mir, als hätte ich noch niemals einen wacheren Geist besessen. Ich war quietschvergnügt und munter. Nur die Hinterbeine wollten nicht recht und ließen sich nachschleppen.
Die Nacht war, wie gesagt, wundervoll. Keine Wolke am Himmel, kein Dunst über der Erde. Man konnte die einzelnen Tannen auf den Graten der niedrigen Berge zählen, so klar war die Luft. Der Schnee trug prächtig, er glitzerte im Mondschein. Er schien aus Millionen von Kristallen zusammengesetzt, deren jedes mit einer Strahlenkrone umgeben war. Es war ein Gang durch ein Zauberreich; mein Weg war besät von Lichtern, Strahlen, farbigen Feuern, Sternen in magischem Glitzern mit Reflexen, die violett, golden oder azurblau schimmerten. Trotz des Eifers, der mich vorwärts trieb, hielt ich mehr als einmal inne, um diese Wunderdinge zu betrachten. Kein Laut störte diese leuchtende Nacht. Es schien mir, daß schon das leise Knirschen des Schnees unter meinen Füßen bis zum Sternengewölbe empordröhnen müßte. Ich vernahm meinen Atem und härte mein Blut langsam in den Adern schlagen. Ich erinnerte mich an die Gespräche des Hasen, und ich verstand, daß der Winter die Jahreszeit des tiefen Nachdenkens sein müsse. Leider aber ist der Winter kalt. Je höher ich kam, desto mehr beizte mir die eisscharfe Luft das Gesicht. Ich weiß nicht, wie lange diese phantastische Reise dauerte. Es gibt kein Maß der Stunden mehr in dieser allgemeinen Unbewegtheit. Sagte dieser Träumer von einem Schneehasen nicht, daß die Zeit in solchen Nächten innehält und sich sammelt?
Ich glaube immerhin, daß ich mehr als eine Stunde brachte entgegen dem, was ich beim Abmarsche erhoffte. Am Ende der Wanderung fühlte ich Anfälle von Müdigkeit, ich atmete beklommen, und eine böse Vorahnung durchschauerte mich. Endlich gelangte ich zum Fuß der granitenen Pyramide. Man sieht sie schon von weitem. Ich war noch völlig wach, und der Gedanke lag mir gänzlich fern, daß ich etwa einschlafen könnte. Ich machte mich sofort ans Werk und kratzte den Schnee mit meinen vier Pfoten auf. Die gefrorene Kruste war bald durchbrochen. Aber in meiner Hast benahm ich mich ungeschickt. Ich grub den Stollen zu nahe beim Felsblock, was mich zwang, zuerst fast senkrecht herabzusteigen. Ich konnte wohl den Schnee hinter mir wegschaffen, er fiel dennoch immer wieder auf mich und behinderte mich. Ich mußte in Spiralen vorgehen, was nicht sehr bequem war. Bei der dritten Wendung der Spirale stürzten die oberen Stockwerke ein. Ich glaubte, daß ich nie damit fertig werden würde. Der Wind hatte hier allzuviel Schnee angehäuft. Endlich erreichte ich den Boden gerade beim Ausschlupf des Baues. Ich hatte bis zu diesem Augenblick immer noch klare Gedanken, wenigstens schien es mir so; aber die Hinterbeine waren schrecklich schwer. Ich achtete nicht darauf. Ich wußte nur: du bist am Ziel, du hast den Sieg errungen. Es blieb noch eine unbedeutende Schwierigkeit zu überwinden. Eine halbe Murmeltierlänge von der Öffnung entfernt war der Stollen des Baues vermauert wie immer. Ich machte mich sofort daran, mir einen Durchgang zu schaffen. Dies nahm mir ziemlich viel Zeit weg. Ich mußte alle Kraft und allen Mut, der mir noch geblieben war, dazu verwenden. Es war zum Verzweifeln. Noch nie hat ein Murmeltier ein so starkes Gemäuer hergestellt. Endlich war ich durch. Meine Pfote griff ins Leere! Dies ist meine letzte Erinnerung. Ich fühle noch jetzt, wie ich plötzlich in diese Leere tappte. Ich glaube, daß ich, ohne es zu wollen, einen kleinen Triumphschrei ausgestoßen habe. Was begab sich dann? Ich weiß es nicht. Alles verliert sich in einer tiefen Nacht. Mein Gedächtnis behielt nichts zurück, rein gar nichts. Ich weiß lediglich, daß ich gestern morgen in jenem Bau erwachte mit achtzehn Murmeltieren, Vätern, Müttern und Kindern, mit einem ganzen Stamm.
Vierter Tag
M.03.01.03.04 / M.165
Meine achtzehn Murmeltiere schauten verdutzt drein, als sie die Augen öffneten und sahen, daß ihr Bau erbrochen war, und daß ein Eindringling sich eingenistet war. Glücklicherweise brauchten sie Muße und Überlegung, um sich über das klar zu werden, was sie sahen. Sie rieben sich mehrere Male die Augen, bevor sie es begriffen. Während dieser Zeit wachte auch ich auf. Die Erinnerung kam mir langsam wieder. Ich sprang, wie letztes Jahr, plötzlich auf. Sechsunddreißig weit aufgesperrte Augen waren auf mich gerichtet, und die Blicke, die man mir zuwarf, verhießen nichts Gutes. Auf die Überraschung folgte bald die Wut. Ein gedämpftes Murren wurde hörbar. Das Aufbrechen eines Baues gilt als ein unsühnbares Verbrechen. Es war um mich geschehen, wenn ich zögerte. Man wäre umso unerbittlicher mit mir gewesen, weil man mich ohne Zweifel der Rückfälligkeit angeklagt hätte. Bin ich denn nicht dieses ewige Murmeltier mit dem Halsband, das schon seit zwei Jahren den Schlaf der ehrlichen Leute stört und dessen Phantom in ihren krankhaften Einbildungen spukt? Kurz, ich machte mich so rasch als möglich aus dem Staube. Vorgestern zu früher Stunde nahm ich von meiner Behausung im Walde wiederum Besitz.
Fünfter Tag
M.03.01.03.05 / M.166
Merkwürdig, ich fühle mich durch diesen zweiten Mißerfolg viel weniger entmutigt als durch den ersten. Es war ja fast ein Erfolg. Ich war diesmal so nahe am Ziel, daß ich es unter günstigen Umständen sicherlich erreicht hätte. Dieser Schnee war mein Verderben. Er ist die Ursache allen Übels. Hätte ich nicht erst diesen Stollen graben müssen, so hätte ich mehr als genügend Zeit gehabt, einzutreten, die achtzehn streifgefrorenen Murmeltiere zu betasten und wenigstens eines mit mir zu nehmen und es hier in dem Gemach mit den Stechpalmenblättern neben mich zu betten.
Was mir dieses Jahr nicht gelang, wird mir ein anderes Mal gelingen. Durchhalten ist der Wahlspruch des Weisen.
Sechster Tag
M.03.01.03.06 / M.167
Es gibt nur einen dunklen Punkt, das sind die dahinfließenden Jahre. Ich habe kaum mehr als zwei, höchstens noch drei zu leben. Murmeltiere, die elfmal den Schlaf der Langen Nacht schlafen, sind selten. Es genügt aber kaum, es nur noch auf zwei Möglichkeiten ankommen zu lassen.
Auf dieser Welt ist es übel bestellt: Entweder ist das Leben zu kurz, oder der Weg zur Weisheit ist zu lang.
Siebenter Tag
M.03.01.03.07 / M.168
Ich würde meine Enttäuschungen leichter auf mich nehmen, wenn ich sicher wäre, daß meine Erfahrungen anderen dienen könnten. Das Werk der Wissenschaft müßte ein gemeinschaftliches sein, die Generationen sollten es einander als Erbe übergeben. Wer wird Nutzen aus meiner Arbeit ziehen? Alles ist im Zerfall heutzutage. Vielleicht bin ich das letzte philosophische Murmeltier.
Letztes Viertel
Erster Tag
M.03.01.04.01 / M.169
Die Berge blieben im vergangenen Jahr bis zur Mitte des Liebesmonds weiß, heuer sind sie schon vor dem Ende des Lawinenmonds grün. Man sah noch nie einen frühzeitigeren Lenz. Die Mehrzahl der Lawinen ging schon während unseres Schlafes nieder. Blumen sind auf den Weiden beim Ausgang des Waldes im Überfluß vorhanden. Ich glaube, daß die Knospen vor meinem früheren Bau zu sprießen beginnen; wenigstens gibt es schon seit einigen Tagen keinen Schnee mehr am Rande des Absturzes. Bald werde ich wieder hinaufsteigen. Die Blüten dort oben besitzen mehr Aroma als diese hier.
Zweiter Tag
M.03.01.04.02 / M.170
Bei meinem Erwachen machte ich nur eine einzige Beobachtung, aber sie war seltsam.
Das Sehvermögen kehrt nicht im gleichen Augenblick zurück, in dem wir die Augen öffnen. Es gibt einen kurzen aber meßbaren Augenblick, während dessen wir nichts sehen, trotzdem wir die Augen offen haben. Dann sehen wir während einer sehr kurzen aber immerhin merklichen Zeit alle Dinge in einer einzigen Entfernung, eines auf das andere geschoben. Der Sinn für die Distanz kehrt uns zuletzt zurück.
Dritter Tag
M.03.01.04.03 / M.171
Ich denke fortgesetzt an das Abenteuer dieses Jahres, ohne mir erklären zu können, warum ich mich nicht durch einen Willensakt wachhalten konnte. Einschlafen am Ziele meiner Sehnsucht! Denn ich war am Ziel. Ich legte mich schlafen nach unserer Gewohnheit. Ich lehnte gegen das Rückrat einer dicken Mama, eines guten, alten Murmeltiers, das noch nie vom Wissensdrang und vom Durst nach Erkenntnis geplagt worden war. Ich fühlte, ich betastete dieses steifgefrorene Murmeltier, dieses Ziel meiner Wünsche – und schlief neben ihm ein!
Vor lauter Bemühen, mich an das zu erinnern, was vorging, mischt sich meine Phantasie ein, und ich bilde mir selbst Erinnerungen. Ich glaube mich hie und da zu erinnern, daß ich diese Murmeltiermama mit beiden Armen umfaßt hielt, und daß ihr Fell mir kalt erschien. Einbildung! Tatsache ist, daß ich mich an nichts erinnere.
Ich finde immerhin in diesem Abenteuer einen neuen Beweis zugunsten der Idee, daß die Lange Nacht keine lange Nacht ist. Ich darf annehmen, daß der Schlaf der achtzehn Murmeltiere an dem Tag begann, an dem sich das Wetter änderte und plötzlich die Kälte einbrach, oder spätestens am folgenden Tage. Von diesem Augenblick an begann für sie die Lange Nacht. Nun aber sah ich bis zu dem Augenblick, wo ich selbst einschlief, mit meinen eigenen Augen die Sonne dreimal auf- und untergehen.
Vierter Tag
M.03.01.04.04 / M.172
Das Wetter wird immer schöner. Ich beginne heute mit meinem Umzug. Ich brauche dazu zwei, vielleicht drei Wanderungen. Diese Tafeln sind nämlich schwer.
Fünfter Tag
M.03.01.04.05 / M.173
Ich tat gut daran, nicht länger zu zögern. Ein junges Pärchen war eben im Begriff, sich meines Baues zu bemächtigen, um sich die Mühe zu ersparen, einen eigenen graben zu müssen. Sie schienen nicht wenig erstaunt über die Rückkehr des noch immer einsamen Philosophen; aber sie leisteten keinen Widerstand. Sie faßten den sehr weisen Entschluß, sich anderswo niederzulassen. Ich hörte die Alte dort unten allerdings maulen. Ich glaube, daß der Herr Gemahl aus ihrer letztjährigen Familie stammt. Sie soll schelten, soviel sie mag!
Siebenter Tag
M.03.01.04.07 / M.174
Mein Umzug ist beendet. Ich bin jetzt wieder gänzlich eingerichtet. Was für ein schöner Frühling!
Etwas stört mich. Unsere Terrasse bevölkert sich. Außer den Kindern der Nachbarin ließen sich noch zwei Pärchen nieder. Dies hat nicht etwa darin seinen Grund, weil es mehr Murmeltiere gibt als im letzten Jahr; im Gegenteil. Niemals haben Geier, Hunde und Menschen unerbitterlicher unter einer unschuldigen Bevölkerung gehaust. Und eben darum setzen unsere Stämme ihre Rückzugsbewegung fort. Sie fliehen vor der Überschwemmung der Berge durch die Menschen. So viele Nachbarn werden meine Meditationen kaum erleichtern. Man wird seine Freiheit gegenüber allen verteidigen müssen.
Ich glaubte zu beobachten, daß ich Gegenstand der Unterhaltung und der Beratung zwischen den Neuankömmlingen und den früheren Einwohnern bin. Es scheint, daß man den Entschluß faßte, mich in Ruhe zu lassen.